Tanja stand vor Hermanns Haus. Bis vor Kurzem war sie so glücklich an diesem Platz gewesen, das dank ihr wieder im früheren Glanz erstrahlte. Im Garten blühte alles. Der alte Baum, der schon seit Jahren keine Früchte getragen hatte, hing dieses Jahr unter dem Gewicht der reifen Quitten fast bis zum Boden. Die grünen Petersilie- und Basilikum-Pflanzen versteckten sich hinter den stolzen Gladiolen. Ein überdurchschnittlich warmer Sommer ging zu Ende. Aber das alles konnte Tanja nicht aufheitern. Der Anruf ihrer Mutter hatte sie brutal in das reale Leben zurückgeholt. Beim Eingang grüßte sie Hermann und machte abwesend ihre Arbeit. Ihr Körper war hier, aber ihr Kopf woanders. 

Hermann bemerkte, dass Tanja schlechte Laune hatte und nicht mit ihm reden wollte. Auf jeden Kommentar seinerseits antwortete sie nur kurz, teils auch unfreundlich. Deswegen ging er ins Wohnzimmer und las in seinem Buch. Tanja blieb in der Küche. Von dort hörte er nur Geräusche, wenn sie die Stühle bewegte und Geschirr abwusch.

„Ich bin fertig für heute. Das Mittagessen steht auf dem Tisch“, sagte Tanja schließlich.

Hermann hatte wie immer das Geld bereits auf das Regal neben sein Foto hingelegt.

„Warten Sie, Tanja! Haben Sie kurz Zeit für mich?“, fragte er, während er sich aufsetzte. Beim Lesen war er fast in eine liegende Position gewechselt.

„Hätten Sie noch etwas gebraucht?“

„Alles bestens. Nur, ich bin nicht sicher, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist“, sagte Hermann vorsichtig.

Tanja seufzte tief. Sie hatte nicht vor, mit Hermann über etwas zu reden, was sie selbst nicht verstand.

Als hätte Hermann ihre Gedanken lesen können, fragte er: „Tanja, ich habe das Gefühl, dass Sie etwas bedrückt. Vielleicht kann ich Ihnen helfen, wenn Sie mit mir darüber reden wollen?“

„Nein, danke“, antwortete Tanja.

„Dachte ich mir. Wieso sollte irgendwer von mir Hilfe oder Rat brauchen?“

„So habe ich das nicht gemeint. Alles passt bei mir, ich habe nur schlecht geschlafen“.

„Schauen Sie, Tanja, während Sie fleißig in der Küche gewerkt haben, habe ich das Buch Vishnas Tod von Manil Suri gelesen. Suri ist ein indischer Schriftsteller, der in Amerika lebt und arbeitet. In dem Buch beschreibt er den Todeskampf eines armen Mannes, der auf der Treppe in einem Wohnhaus auf seinen letzten Atemzug wartet. Seine Armut ist so groß, dass wir es uns gar nicht vorstellen können, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen: Er ist ein armer Mensch, aber seine Erinnerungen sind reich. Das Buch ist üppig gestaltet mit einer Mischung von Lebensfreude, indischen Sitten und Essen, von guten und schlechten Protagonisten, von Liebe und Hass. Und von Farben, wunderschöne Farben von Saris, die indische Frauen tragen, von Gewürzen, die wir in Europa gar nicht kennen, der Farbe der Städte und ihrer Menschen, die mit ihren Löhnen versuchen, noch einen weiteren Tag auf dieser Welt zu erleben. Von Farben der ersten Liebe und der ersten Enttäuschung … Tanja, es ist so schön, wenn man die Farben sehen kann, finden Sie nicht? Es gibt nichts Schöneres als das. Wissen Sie, ich kann mich an manche Farben erinnern, zum Beispiel … die Farbe des Himmels. Ach, was rede ich nur für einen Blödsinn, der Himmel hat ja nie dieselbe Farbe. Verraten Sie mir, welche Farbe er heute hat?“

„Hellblau“, sagte Tanja.

„Scheint die Sonne, gibt es Wolken?“

„Wolkenloser Himmel, Sonnenschein.“

„Das ist ja wunderschön! Und welche Farbe hat ihr Kleid oder Rock?“

„Mein Kleid?“, fragte Tanja verwundert.

„Seien Sie nicht böse, dass ich Sie das frage. In der Dunkelheit ist alles so eintönig.“

„Ich trage ein blaues Kleid, aber nicht so wie der Himmel. Mehr türkis, blau gemischt mit grün.“

„Ach, wie schade, dass ich es nicht sehen kann“, sagte Hermann mit einem traurigen Lächeln.

„Und Ihre Augen, Tanja? Warten Sie, sagen Sie es noch nicht, ich will es erraten! Ihre Augen sind grün und ihr Kleid passt gut dazu.“

Endlich lachte Tanja wieder. „Sie waren nah dran, aber das ist leider nicht richtig. Meine Augen sind blau, eigentlich bläulich-grau.“

„Und die Haare? Welche Haarfarbe haben Sie?“

„Schwarz. Sie sind schwarz und kurz.“

„Ach, diese Farbe müssen Sie mir nicht beschreiben. Die kenne ich gut.“

Tanja beobachtete Hermann und seinen starren Blick hinter der Brille und konnte nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten. Woher nahm sie das Recht, so unfreundlich zu ihm zu sein, ihrer eigenen Probleme wegen? Und was waren ihre Probleme, so groß sie auch waren, im Vergleich zu seinen? Wie konnte sie sich nur so gefühllos verhalten? Gerade sie, die sich selbst sonst für gerecht und hilfsbereit hielt. Sie trat zu Hermann und umarmte ihn fest.

„Hm, danke“, sagte er verlegen. „Und jetzt, nachdem ich Sie kennengelernt habe, wäre es Zeit, mich selbst kennenzulernen. Könnten Sie mich beschreiben? Seien Sie ehrlich mit mir und sagen Sie es so, wie es ist.“

Tanja ließ sich Zeit, um Hermann noch einmal genauer anzuschauen. „Sie sind ein großer Mann, größer als der Durchschnitt. Außerdem, Sie sind auch breit, aber nicht dick.“

„Das ist gut, sehr gut. Dann kann ich weiterhin ohne Angst Ihre Spezialitäten essen.“

Tanja musste wieder lachen. „Ihre Haare sind hell, und – wie soll ich es sagen? – ziemlich dürftig.“

Jetzt musste Hermann auch lachen. „Ja, ja. Ich glaube, so viel weiß ich auch … Das heißt, ich bin nicht attraktiv?“, scherzte er. 

„Ach, nein, das habe ich nicht gesagt. Ich meine, Sie sind attraktiv für Ihr Alter.“

Hermann lachte noch lauter und steckte Tanja mit seinem Lachen an. Dadurch vergaß sie für kurze Zeit ihre Sorgen.

„Tanja, jetzt, wo Sie es mir so schön beschrieben haben und ich weiß, dass wir ein schönes Paar abgeben, könnten Sie mit mir zum Blindenverein spazieren. Unsere Sozialarbeiterin hat den Wunsch geäußert, Sie kennenzulernen“.

Tanja überlegte kurz und willigte ein. Würde Sie nach Hause gehen, würden die Gedanken an Aljoscha sie quälen. In Hermanns Gesellschaft ging es ihr gut und sie glaubte, dass die anderen im Verein auch nette Menschen sein mussten.