Es war einmal eine glückliche Familie. Nein, es war einmal eine Familie, die weder glücklich noch unglücklich war, eine ganz normale Familie eben. 

Es war ein Kind in der Familie und dann noch ein zweites. Und die Kinder machten das was alle Kinder der Welt machten - spielen, streiten und lernen. Und die Eltern schimpften manchmal mit ihnen, aber dann war bald wieder alles normal, alles so wie es sein sollte. 

Dann kam ein Tag, nach dem nichts wieder normal wurde. Ein Kind entschied sich, nicht mehr mitmachen zu wollen, einfach so. Nicht nur an dem Tag oder an den Tagen danach, sondern nie wieder. Und es kam Trauer in die Familie, eine unbeschreibliche Trauer, ein Schockzustand. Die Eltern waren am schwersten betroffen, dachte man. Ihnen ist das Schlimmste, was einer Mutter und einem Vater zustoßen kann, passiert, sagte man. Es blieb noch ein Kind in der Familie, jetzt ein Einzelkind. Das Kind sollte gut auf sich und seine Eltern aufpassen sagten sie. Das Kind war das Einzige, was ihnen geblieben war. Keiner fragte, wie es ihm dabei ging. Seine Trauer und seine Ängste hatten keinen Platz.

Die Zeit verging. Was immer das zweite Kind machte, seine Eltern blieben traurig. Das Kind rebellierte, suchte einen Ausweg für sich und seine Wut. Es fand niemanden, mit dem es ehrlich darüber sprechen konnte. Ihm kam vor, dass alle andere oberflächlich zuhörten und keine Zeit für seine Probleme hatten. Es ging zum Psychologen. Das half ihm nicht. Das Kind wollte mit niemandem mehr darüber sprechen, da es wusste, keiner konnte ihm helfen. Das Kind lernte seinen Partner kennen und entschied sich weiter zu kämpfen, für sich, seine Familie und seine Eltern. Es kamen Tage, wo es besser wurde. Die Tage blieben aber nicht für immer. Es kamen wieder Tage, wo alles schlimmer war. Die Eltern wurden älter, sie waren noch immer sehr traurig. Die Geburtstage und Todestage kamen und gingen, die Trauer blieb. Die Eltern wünschten sich, das verstorbene Kind nach ihrem eigenen Tod wieder zu sehen. Das zweite Kind glaubte nicht an Leben nach dem Tod. Was soll da sein, fragte es sich. Man sagte, Gott gibt jedem Menschen so viel, wieviel er ertragen kann. Dafür wird er im nächsten Leben belohnt. Es gäbe keine Belohnung für das, was das Kind erleben musste. 

Das Kind wurde älter, es wusste wie es mit seiner Trauer umgehen muss, es lernte wie man sich von anderen besser schützen kann. Es fing an, seine Eltern zu verstehen, und akzeptierte, dass es nie so wird wie es vorher war. Es waren die Erfahrungen, die ihm zeigten, dass alles vergänglich war, das Leben und der Tod. Das Kind, jetzt schon erwachsener Mensch, wollte das Leben genießen, endlich einmal so sein, wie es immer sein sollte, wie es nie sein durfte. Es sprach manchmal mit dem verstorbenen Kind, verstand es und beschuldigte es gleichzeitig. Manchmal war das Kind sehr wütend, weil es seine Erfolge und Niederlagen nicht mit ihm teilen konnte. Wenn das Kind eigene Kinder bekommen sollte wusste es, dass sie nie einen Onkel und eine Tante haben werden.

Wenn seine Eltern krank werden, wird das Kind ins Krankenhaus eilen, in den letzten Minuten wird es ihre Hände halten, während sie sich am Wiedersehen mit dem ersten Kind freuen werden. Keiner aus seiner ursprünglichen Familie wird dort sein, um es zu trösten. Keiner wird ihm helfen können. Das Kind wird trotzdem weiter machen, da es schon gelernt hat um sein Überleben zu kämpfen. Das starke, vergessene und traurige Kind wird sich wieder einmal fragen - was hätte ich anders machen sollen? Und keiner wird ihm Antwort auf diese Frage geben können. 

 

Linz, 2020

Copyright © Aleksandra Kalischek