Er saß am Gang im ersten Stock des Allgemeinen Krankenhauses, den Blick durch das Fenster auf einen alten Eichenbaum gerichtet. Die Blätter des Baumes waren gelb und rötlich, es war sichtlich, dass der Herbst Einzug hält. Die Tage waren trotzdem noch sommerlich warm, ungewöhnlich warm, so dass man fast an den Klimawandel glauben konnte. Ihm war sowieso egal, wie das Wetter in hundert oder fünfhundert Jahren sein wird. Vielleicht wird ihm bald alles egal sein. Der Gedanke an sein mögliches Ende machte ihn schwermütig, aber gleichzeitig war er befreiend.

Der Baum im Park erinnerte ihn an sein Dorf. Ein Dorf weit weg von hier, das Dorf in dem er geboren und aufgewachsen ist. Dort hatten sie einen ganzen Eichenwald, nicht nur so einen einsamen Baum. Der Wald erstreckte sich soweit das Auge sah. Man brauchte von seinem Dorf eine halbe Stunde zu Fuß bis zum nächsten Ort. Im Herbst sammelten er und seine Schwestern Eicheln für die Schweine. Sie mussten ja über den Winter gefüttert werden. Es waren so viele Früchte am Boden, manche mit einem kleinen Käppchen, manche nackt. Die mit Käppchen hatten sie besonders gern. Einmal hatte die Lehrerin ihnen gezeigt, wie man aus den Eichenfrüchten eine Kreatur basteln kann. Das fand er lustig. Sonst waren die Lehrer eher streng und sie schlugen die Schüler manchmal auf die Hände. Das machen Lehrer heutzutage nicht mehr, und das ist gut so. Obwohl er nicht glaubte, dass die Kinder dadurch besser geworden sind. Da brauchte er nur an seine zwei Enkel denken. Sie können einen schon ganz schön auf Trab halten. Verspielt waren er und seine Schwestern auch, aber Respekt vor den Älteren hatten sie immer. Und ein bisschen Angst. Das ist heute nicht so, nicht annährend so wie in seiner Kindheit. 

Der nächste Patient wurde aufgerufen, es war ein alter Herr in seinem Alter. Dieser ging mit Hilfe eines Gehstockes zur Ordinationstür. Die Tür schloss sich. Er selbst blieb am Gang sitzen und wartete geduldig, schon den ganzen Vormittag. In der Früh brachte ihn sein Sohn ins Krankenhaus. Er wurde zur Blut- und Urinabnahme geschickt, danach maßen sie seinen Blutdruck. Mit einer Überweisung schickten sie ihn dann zum Urologen, wo er immer noch wartete. Er musste mit seinem Sohn kommen, da er die Sprache nicht gut verstand. In seinem Arbeitsleben konnte er sich zwar ohne Probleme auf der Baustelle verständigen, aber im Krankenhaus redeten sie anders. Die ganzen medizinischen Begriffe waren ihm unverständlich, er brauchte sie nie und er lernte sie nie. Wozu auch? Er kam mit sechsundzwanzig hierher, jung, stark und gesund. Gesund war er schon immer, wenigstens bis zum letzten Jahr. Als Kind war er nur einmal krank und das war richtig schlimm. Die Mutter schmierte seine Brust mit Schweinefett ein, seine Füße wickelte sie in einen Umschlag mit rohen Kartoffeln. Die ganze Nacht zitterte sein Körper unter Schüttelfrost. Seine Verwandten wollten schon einen Priester holen, aber er erholte sich so plötzlich, wie er krank wurde. Seit diesem Ereignis fastete seine Mutter jeden Mittwoch und jeden Freitag, bis zu ihrem Tod. In Frieden soll sie ruhen, seine gute Mutter. Wenn es einen Engel auf der Erde gab, dann war sie dieser Engel. 

Und jetzt ist er so alt wie sie es bei ihrem Tod war. Er kann es noch nicht fassen, dass die Zeit so schnell verging. Ja, sechsundzwanzig war er, als er ins Ausland zum Arbeiten ging. Und jetzt ist er ganze fünfzig Jahre älter. Eigentlich hatte er keinen Grund aus seinem Dorf weg zu gehen. Er hatte ein Haus, das sein Vater für ihn gebaut hatte, mehrere Grundstücke, ein paar Kühe, Schweine, Hühner und auch sonst alles, was ein Bauer damals zum Leben brauchte. Und einen Traktor, den der Vater mit Kredit finanziert hatte. Nur Auto hatten sie keines. Obwohl die nicht asphaltieren Straßen mehr für ein Motorrad oder einen Jeep geeignet waren, hatte er sich ein Auto sehnsüchtig gewünscht. So einen weißen Mercedes, mit dem der Nachbar fuhr, wenn er aus Österreich zu Besuch in die Heimat kam. Und die Fassade des Hauses musste auch noch fertig werden. So überlegte er nicht lange, als ihn derselbe Nachbar nach Österreich einlud. Heiraten wollte er noch bevor es losging. 

Bei der Hochzeit sprach ihn sein Vater an: „Bist du sicher, dass du gehen willst, mein Sohn? Hier hast du alles. Vielleicht glaubst du jetzt, dass es nicht viel ist, aber du wirst sehen, dort wirst du noch weniger haben“.

„Mach dir keine Sorgen Vater“, sagte er. „Es dauert nicht lange und du wirst stolz auf mich sein. Ich bleibe nicht ewig dort, nur bis ich das gekauft habe, was uns hier noch fehlt“. 

Sein alter Vater warf ihm einen verzweifelten Blick zu und sagte nichts mehr. Früher redete man nicht so viel, es waren eher die Gesichtsausdrücke und Körpersprache, die man zur Kommunikation gebrauchte. Er verstand aber bald, was der Vaterblick in sich hatte. Und leider auch, wie recht sein Alter hatte. Die erste Arbeit bekam er auf einer Baustelle. Gewohnt hat er in einem Zimmer mit seinem Nachbarn und einem weiteren Arbeiter aus seiner Heimat. Verstanden haben sie sich gut, die Arbeit fiel ihm auch nicht schwer, nur das Essen war eine Katastrophe. Er vermisste alles, gute Eier von Mutters Hühnern, selbstgemachtes Geselchtes, den frischen Salat und Gurken aus dem Garten. Er vermisste auch Äpfel und Nüsse und den selbstgebrannten Zwetschkenschnaps. Deswegen kaufte er die Ware, die Landsleute aus seiner Heimat mitnahmen. Aber mehr als das Essen vermisste er seine junge Frau und seine Familie. 

Seine Trauer ertränkte er im Gasthaus „Kod Cire“, dem einzigen Ort, wo er sich ein bisschen zu Hause fühlte. Das Gasthaus war dunkel, der Raum war von Rauch und Biergeruch erfüllt, nur Männer saßen drinnen. Zwei Kellnerinnen stellten den Frauenanteil und an manchen Abenden kamen noch die Sängerinnen dazu. Es war der beste Ort, um Neuigkeiten zu erfahren. Bei einem Gespräch erfuhr er von einem besserbezahlten Job in einer anderen Baufirma. In dieser Firma blieb er bis zur Pensionierung. Da das Geld bald mehr wurde, mietete er eine kleine Wohnung für sich und seine Frau, die nach zwei Jahren endlich zu ihm kam. In den ersten paar Monaten ihres Aufenthaltes weinte sie ununterbrochen, aber mit der Zeit gewöhnte sie sich an die neue Umgebung, und als sie einen Sohn bekamen, wurde sie die Stütze der Familie.  

Genau in dem Moment als er an ihn dachte, erblickte er seinen Sohn. Er kam die Treppe herauf, schlank und groß, mit lockigen schwarzen Haaren, gestresst wie immer. 

„Ich habe jetzt alles erledigt, das Auto habe ich in der Tiefgarage geparkt“, sagte er auf Deutsch zu ihm.

„Rede nicht Deutsch mit mir, ich verstehe dich nicht“, antwortete er leise in seiner Muttersprache. 

„Und ob du das verstehst, aber du willst es nicht verstehen. Mein Gott, du lebst ja seit fünfzig Jahren hier“, sagte sein Sohn mit böser Miene, jetzt aber auch auf Muttersprache.

„Das Thema hatten wir schon, lass uns jetzt nicht darüber streiten“, antwortete er und schwieg. 

Eine Weile schwiegen sie alle beide. Gut war sein Junge, ein fleißiger und erfolgreicher Mann. Er bemühte sich schon in der Schule nicht aufzufallen. Deswegen lernte er die Sprache so gut. Er wollte nicht, dass die Einheimischen ihn nicht verstehen oder ausbessern. Deshalb kam er so weit im Leben. Schon in der Schule bekam er die besten Noten, dann ging er studieren, und jetzt ist er so ein Manager in einer großen Lebensmittelkette. Er hätte überall arbeiten können, so gut ist er. Und verdienen tut er auch ordentlich, aber sparsam ist er nicht. Letztes Jahr heiratete er eine aus der Firma, ein österreichisches Mädchen. Nur eine große Hochzeitsfeier wollten sie nicht haben, sie flogen einfach nach Amerika und dort heirateten sie. Er verstand das nicht, wie kann man nur so heiraten, ohne Familie und ohne Freunde. Er hätte sich so gefreut, dem einzigen Sohn eine richtige Hochzeit zu machen, Verwandte einzuladen, und zeigen, dass sie es geschafft haben. Dafür sparten er und seine Frau viele Jahre. Aber was soll es, glücklich soll sein Sohn sein, glücklich und zufrieden. 

Eine junge Krankenschwester ging den Gang entlang. Sie lächelte beim Vorbeigehen. Keiner lächelte zurück. Sonst war es ruhig, nicht so wie bei seinem Arzt. Wahrscheinlich deswegen, weil hier nur Männer saßen, keine Frauen und keine Kinder. Niemand hatte Lust zum Reden, das sah man in den Gesichtern der Wartenden. Er redete sowieso wenig. Wenn er Deutsch redete, verstanden ihn die Menschen schlecht. Seine Muttersprache sprach er nur, wenn er sicher war, dass sich niemand dadurch gestört fühlte. Jetzt schwieg er, weil alle schwiegen.

Er dachte an seine Frau, die einzige in diesem Land, die ihn wirklich verstanden hatte. Gut war sie zu ihm und den Kindern, aber der liebe Gott nahm sie zu früh zu sich. An einem Abend vor siebzehn Jahren, einem Abend wie jeder andere, schlief sie ein und wachte nicht mehr auf. Die Nachbarn und Verwandten sagten, so sterben ist am besten, sie litt nicht. Es war ein Schock für ihn, das ist es immer noch. Wie er es nach ihrem Tod noch geschafft hatte, wusste er auch nicht. Er hatte sie schon als junges Mädchen gekannt. Sie war nicht die Schönste im Dorf, aber es war etwas in ihrem Blick, das ihm sagte, dass sie die Richtige für ihn sei. Ja, die Blicke und Gesichter konnte er immer gut lesen und er irrte fast nie dabei. Sie war immer an seiner Seite, auch dann, wenn er selbst nicht auf seiner Seite war. Sie hatte viel Geduld, etwas was jede Frau in ihrem Leben lernen sollte. Die Männer sind anders, stur und eigensinnig, aber die Frauen müssen geduldig sein. Sonst funktioniert die Familie nicht, keine Ehe kann ohne Geduld funktionieren. Sie ging nicht lang in die Schule, war keine gebildete Frau, aber sie wusste wie man eine Familie führt und schützt. Eine Tochter brachte sie auch zur Welt. Die Menschen sagten ihm, Gott hat dir einen Sohn gegeben, um dein Erbe zu tragen, und eine Tochter für das Alter. Aber seine Tochter heiratete bald, bekam selber Kinder und zog mit ihrer Familie in eine andere Stadt um. Sie rief ihn fast jeden Tag an, um zu sehen wie es ihm ging, aber sie kam nur selten, um ihn zu besuchen. Dafür wohnten sie zu weit weg voneinander. Würde sie näher leben, würde sie ihn sicher öfter besuchen. 

Die Ordinationstür öffnete sich und ein Arzt mittleren Alters rief seinen Namen. Falsch sprach er ihn aus, so wie fast alle hier. Aber er wusste schon, dass er gemeint war. Er ging langsam in die Ordination, sein Sohn ging zwei Schritte voraus. Ausziehen sollte er sich und zum Tisch drehen. Es war ihm unangenehm. Sein Sohn sah es, und drehte sich weg. Der Arzt drang mit dem Finger ins Innere seines Körpers, wo ihn sonst keiner bisher je berührte. Das schmerzte sehr. Er gab einen Laut von sich, mehr Jammer als Schrei. Der Arzt nahm seine Hand von dort weg und untersuchte seine Leisten und seinen Bauch. Das schmerzte auch, aber nicht so schlimm. Er zog sich wieder an. Der Arzt setzte sich an seinen Tisch, sah auf die Papiere, die vor ihm lagen. Keiner redete, er versuchte den Gesichtsausdruck des Arztes zu deuten. Aber er sah nichts, nur eine professionelle Leere. Es dauerte noch ein paar Sekunden länger, dann sagte der Arzt: „Setzt Euch, bitte“.

Er wollte nicht sitzen, wollte so schnell wie möglich wieder aus diesem Zimmer. Alles war so weiß und so ordentlich, die Bilder an der Wand zeigten männliche Geschlechtsorgane. Das Gesicht des Arztes änderte sich von professionell leer zu professionell besorgt. Er fragte den Sohn, wann sein Vater das letzte Mal eine solche Untersuchung hatte. Der Sohn antwortete, dass er noch nie vorher eine hatte. Der Arzt warf einen bösen Lehrer-Blick zu ihm. Obwohl er nicht alles verstand, glaubte er, dass der Arzt darüber sprach, wie wichtig solche Untersuchungen seien. Dann zeigte er mit dem Finger auf die Werte auf einem Papier. Sein Sohn schaute besorgt hin und sagte nichts. Der Arzt redete dann eine Weile. Er hörte ihm nicht mehr zu. Der Gesichtsausdruck des Arztes wechselte wieder vom besorgten zum professionellen. Er schien sehr kompetent für diese Krankheit zu sein. Sein Sohn nickte hin und wieder und sagte „ja, verstehe“. Dann bekamen sie mehrere Rezepte und der Arzt verabschiedete sich freundlich von den beiden. Der Sohn ging zuerst, er selbst sagte nur „Auf Wiedersehen“ und ging seinem Sohn nach. Obwohl er kaum etwas von dem was in der Ordination passierte mitbekam, wusste er, dass es nichts Gutes war.     

„Komm, Vater, wir gehen“, sagte sein Junge. Dem alten Mann entging nicht, dass er irgendwie abwesend war. 

Sie gingen den langen Gang entlang zum Lift. Es waren bunte Linien am Boden, die einem den Weg zeigten. Die Linie, die sie verfolgten, war grün und er schaute die ganze Zeit zu Boden, um diese Linie nicht aus den Augen zu verlieren. Die Schuhe der entgegenkommenden Menschen wechselten vor seinen Augen. Er sah moderne weibliche Stöckelschuhe, jugendliche Sportschuhe, und immer wieder schwarze Männerschuhe. Alle eilten ihren Linien nach. Er schaute nicht hoch, genauso wie er in seinem Leben nie hochgeschaut hatte. Er eilte auch im Leben nur seiner Linie nach. Nie fand er Zeit und Kraft, um stehen zu bleiben und vielleicht einen anderen Weg zu gehen. Nur gerade, nur weiter, wo auch immer hin. So vergingen viele Jahre ohne, dass er Einfluss auf seinen Weg nahm. Auch als seine Schmerzen anfingen und er immer öfter auf die Toilette musste, fand er keinen Grund zum Arzt zu gehen. Er ging einfach seinen Verpflichtungen nach. Viele hatte er allerdings nicht mehr, seitdem er in der Pension war. In der Wohnung fand er manchmal etwas zu reparieren. Das gab ihm ein Gefühl, dass er immer noch wichtig für diese Welt sei. Dass er noch nicht ganz weg vom Fenster sei. Aus der Wohnung ging er selten. Nur zum Einkaufen und zum nahliegenden Park, um Schach zu spielen. Das letztere auch nur, wenn das Wetter gut war. Ins Gasthaus ging er nicht mehr, dort veränderte sich alles zu schnell. Er fühlte sich an diesem Ort nicht mehr zu Hause. 

„Komm hierher!“, rief sein Sohn, „Hier ist das Auto“. 

Er stieg ein und sie fuhren Richtung seiner Wohnung. Das Krankenhaus lag etwas weiter entfernt, die Stadt hat sich seit seiner Ankunft verändert. Früher arbeitete er viel, kannte fast jedes Viertel. Hier baute er eine Straße, dort wieder ein Wohnhaus. In den letzten Jahren bauten die Firmen schnell viele Wohnhäuser und Einkaufszentren. Und irgendwann verlor er den Überblick, blieb lieber in seinem Stadtviertel. Dort kannte er noch alles, dort tat sich nicht viel. Keiner der Oberen wollte in so einen Stadtteil investieren. Es waren einfach zu viele Fremde da und es kamen immer wieder neue dazu. Sie sprachen andere Sprachen, weder Deutsch, noch seine Muttersprache. Er mied sie, sprach nicht viel mit ihnen. 

Sein Sohn fuhr sicher durch den Straßenverkehr. Sie sprachen nicht miteinander. Der Sohn zündete sich eine Zigarette an und machte das Fenster auf. Ihn überraschte das. Er hätte geglaubt, dass der Junge damit aufgehört hatte. Aber er sagte nichts. 

An einer Ampel blieben sie stehen. 

„Und wann wolltest du zum Arzt gehen?“, fragte sein Junge. 

„Bin doch jetzt gegangen“.

„Ja, aber das auch nur, weil ich dich mitgenommen habe“.

„Ja, so ist es. Ich wüsste sonst nicht, wie ich hinkomme“.

„Alter, mir ist nicht nach Scherzen. Du bist krank. Du wirst bald eine Therapie machen müssen“. 

Er atmete tief ein, sagte nichts. Er ahnte, um welche Therapie es sich handeln könnte.  

„Wir müssen gemeinsam mit dem Arzt besprechen, was das Beste in deiner Situation ist. Du musst mitmachen, hörst du?“  

Er sah, dass sein Sohn aggressiv wurde, weil er Angst hatte. Und das tat ihm weh. So war der Junge immer schon. Deswegen suchte er Sicherheit im Leben, um keine Angst haben zu müssen. Aber das Leben ist alles andere als sicher. Das hat er ihm nicht beigebracht. Er versuchte, ihn vor allem zu schützen. Er gab ihm das Gefühl, dass alles unter Kontrolle war, auch wenn es das nicht war. Dadurch schützte er auch sich selbst, verdeckte damit seine eigene Angst und Unsicherheit. Nur nichts falsch machen, nur gerade und weiter wohin auch immer. Wenn er traurig war, sah er nicht zurück, fragte sich nicht, was falsch an seinem Leben war. Er entschied sich ja einmal für dieses Leben, ein zweites Mal kann man sich nicht entscheiden.  Nicht einmal als seine Frau starb, wollte er zurückschauen. Er ging weiter durch das Leben, ohne Ziel und ohne Freude, aber er ging. Er wusste, dass sein Geist keine Ruhe finden würde. Er wartete auf etwas, das nie kam. Er wartete auf das Glück, das er sich Jahrzehnte vorher versprochen hatte.

Sie fuhren weiter, die Straßen und Geschäfte wechselten vor seinen Augen. Keine dieser Straßen empfand er als seine, obwohl er manche auch mitgebaut hatte. Und keinen dieser Menschen kannte er. Es war alles so fremd hier. Was immer er versuchte, um dieses Gefühl zu ignorieren, es gelang ihm nicht. 

Endlich kamen sie an. Der Sohn ging nicht in die Wohnung mit. Er verlor auch so schon den ganzen Vormittag. In seiner Arbeit war er der Verantwortliche, ohne ihn ging in der Firma nichts weiter. Er sagte ihm, dass er am nächsten Tag vorbeischauen werde und sie dann ernst reden müssen. Und die Medikamente werde er auch mitnehmen.

Ein guter Junge ist sein Sohn, auch seine Tochter ist ein braves Mädchen. Gut haben sie ihre Kinder erzogen. Aber dieses Leben hier und die fehlende Zeit um miteinander zu reden. Und wenn man endlich ein bisschen Zeit hätte, dann fehlen die richtigen Worte. 

Er ging in die Wohnung hinein und setzte sich auf die Bank in der Küche. Eine gehäkelte Tischdecke lag auf dem kleinen Küchentisch. Seine Frau häkelte viele solcher Decken in ihren jungen Jahren. Er schloss die Augen und berührte die Tischdecke mit leicht zitternden Händen. Bei jeder Masche spürte er wie er näher zu seiner Frau, seinem Dorf und seinen Eltern kam. Er spürte ihre Anwesenheit. Seine Eltern standen nebeneinander, wie auf dem alten schwarz-weiß Foto. Seine Frau war jung, sie lief vor ihm und zeigte ihm den Weg nach Hause. Er wollte zu ihr, wollte seine lieben Eltern umarmen. Aber sie sagte ihm: „Es ist noch nicht so weit Liebling. Wir sehen uns später“. Dann verschwanden sie so plötzlich, wie sie gekommen waren. 

Er blieb noch eine Weile sitzen. Draußen im Hof spielten Kinder, ein paar Autos fuhren vorbei. Es lief alles wie immer, nur er war ein anderer. 

Auf einmal wusste er ganz genau, was er machen würde. Das, was er schon längst hätte machen sollen. Er wird am nächsten Tag zum Bahnhof gehen und in einen Bus einsteigen, der zu seinem Heimatort fährt. Er wird nur das Nötigste mitnehmen, den Rest wird er dort kaufen. Das Wetter müsste auch dort schön sein. Damit hat er noch ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen, um das Holz zu besorgen. Er wird den alten Nachbarn mit Pflug zahlen, so dass er im nächsten Frühling den Gemüsegarten bepflanzen kann. Er wird zuschauen, wie die ersten Bohnenstangen und Tomaten wachsen. Im Herbst wird er die Kürbisse sammeln, die wild neben dem anderen Gemüse wachsen. Er wird die Maiskolben pflücken. Das Haus wird er langsam reparieren, das Nebenhaus auch, wenn er Zeit dafür findet. Nach der Arbeit wird er zum Fluss gehen, wird auf einem warmen Stein sitzen und schauen wie der Fluss dahinfließt. 

Und ja, er wird auch zum Arzt gehen. Aber er wird zu einem gehen, den er versteht. Nachdem er angekommen ist wird er nie wieder in einem Gesicht lesen müssen, wie es um ihn steht. 

 

Linz, 2018

Copyright © 2020: Aleksandra Sana Zubić