Sie fuhr in der übervollen Straßenbahn. An jeder Station stiegen halb durchnässte Fahrgäste ein, die Zuflucht vor dem Regen suchten. Ein paar hundert Meter vor dem Hauptbahnhof fuhr die Straßenbahn in einen Tunnel und passierte die nächsten drei Stationen im Untergrund. Sie mochte diesen plötzlichen Übergang vom Licht in die Dunkelheit nicht. Sie liebte es, die breiten Stadtstraßen mit Geschäften und Lokalen zu betrachten, die bunten Regenschirme und die hastenden Passanten. Jetzt konnte sie nur ihr Spiegelbild im Fenster sehen, das ihr aber nicht gefiel. Aus dem Glas sah sie ein junges, knöchernes Gesicht an, umrankt von kurzem aber dichtem schwarzem Haar. Das war nicht eines jener Gesichter junger Frauen, die sie unterwegs traf. Keine oberflächliche Schönheit, kein Gesicht, das sich auf das Ausgehen in der Stadt freut, auf das Shoppen mit Freundinnen, kein Gesicht, das im Schutz der Sicherheit des Familienlebens das Verbotene und Interessante sucht und abends wieder zurückkehrt. Auf ihrem Gesicht waren Sorgen zu sehen. Sie sorgte sich um sich selbst, um die Ihren, um das Jetzt und darum, was das Morgen bringen könnte und sie sorgte sich um ihre Beziehung. 

 

Er hatte ihr Leben aus dem Schlamm gezogen und deshalb freute sie sich über jedes Treffen mit ihm. Obwohl ihre gemeinsamen Momente sehr selten waren, halfen sie ihr, die Zeit bis zum nächsten Mal zu überleben. Auch heute beeilte sie sich zu ihm. Nur noch vier Straßenbahnstationen und dann würde sie durch die engen Seitengassen zu seiner Arztpraxis laufen.

Das alte Gebäude mit der grauen Fassade und den Engelsskulpturen strahlte die Eleganz vergangener Zeiten aus. Sie öffnete die geschnitzte Eingangstür aus dunklem Holz und stieg die Stufen in den zweiten Stock hinauf. Durch die gläserne Tür der Arztpraxis sah sie Licht. Er war schon da. Sie schüttelte die Regentropfen von ihrem Mantel, klappte den Regenschirm zu und trat in seine Welt ein.

„Hallo Tanja, da bist du ja!“ Er sah sie über die Lesebrille hinweg an und lächelte.

„Ich muss nur noch ein paar dringende Sachen erledigen“, sagte er und wandte sich den Papieren auf dem Arbeitstisch zu. Der alte Holztisch für den Empfang der Patienten war elegant, wie der Großteil der Möbel im Raum. Hölzerne Kommoden und Stellagen, geschmackvolle Regale mit Schachteln voll Medikamenten und Tee und dazwischen Blumentöpfe mit den verschiedensten Arten von Orchideen in allen Farben und überall Bücher, viele Bücher. Vor den hohen Fenstern hingen saubere, weiße Vorhänge und in der Ecke des Zimmers stand eine rote Lampe in Form eines Frauenkörpers. Sogar ein Weinregal fand hier Platz. Der Raum glich eher einem Antiquariat als einer Zahnarztpraxis. Die gesamte Praxis war sauber und hell und in den Räumen war nichts von diesem sonst so aufdringlichen Geruch nach Medikamenten zu bemerken.

„Ich gehe mich duschen“, sagte Tanja und verschwand im Gang.

„Passt, aber heute haben wir nicht allzu viel Zeit. Meine Tochter tritt abends bei einer Ballettveranstaltung im alten Theater auf“, rief er ihr zu, während er den Blick nicht von den Bestätigungen und Briefen hob. Die Post zu erledigen, gehörte sonst nicht zu seinen Aufgaben. Aber seine Mitarbeiterin hatte sich eine starke Erkältung zugezogen, die sie zwang, zu Hause zu bleiben.

Ja, seine Tochter ging schon zum Ballettunterricht, als sie sich kennenlernten. Ein ambitioniertes und schönes Mädchen aus gutem Hause - auf sie wartete sicher eine strahlende Zukunft. Als sie jünger war, sah ihr Tanja so ähnlich, dass sie es ohne Probleme geschafft hätte, die Grenzen der Europäischen Union mit dem Pass seiner Tochter zu überqueren. Jetzt stand auf seinem Arbeitstisch das Bild eines hübschen, schlanken Teenagers. Das lange dunkelbraune Haar trug sie zu einem Zopf zusammengebunden, der Mund mit dem mystischen Lächeln zeigte ihre perfekten Zähne. Sie war außergewöhnlich schön. Jetzt könnte Tanja sicher nicht mehr mit ihrem Pass über die Grenze.

Er sah die Post rasch durch. Ein Drittel war Werbung, die er sofort wegwarf, ein paar wichtigere Briefe legte er auf die Seite. Nach dem Wochenende würde er Zeit dafür finden.

Tanja, die nur mit einem Handtuch über dem feuchten Körper das Badezimmer verließ, lächelte ihn verführerisch an. Er bemerkte, dass sie in letzter Zeit ziemlich abgenommen hatte. Ihre beinahe kindliche Figur, die er so an ihr liebte, war verschwunden, dennoch war sie attraktiv, jetzt auf eine andere, reifere Art. Sie war so einfach, das wahre Gegenteil seiner Frau. Seine Frau würde sich nicht einmal in einem Anflug von Verrücktheit nackt zeigen. Sogar am Strand trug sie immer irgendwelche Tücher über dem Badeanzug. All die Schminke, Cremen, Farben und sonstigen Hilfsmittel sollten ihr Älterwerden aufhalten. Stattdessen sah sie noch älter und ein wenig wie eine Schaufensterpuppe aus Plastik aus. Er liebte Tanja, ihre Jugend, ihre angeborene Eleganz und ihre osteuropäische, zurückhaltende Schönheit. In ihr vereinigte sich alles, was er viele Jahre zuvor in seinem Land zurückgelassen hatte, als er in die Welt auszog, auf der Suche nach einem besseren Leben. Er umschlang ihre Taille und zog sie zu sich. Für Liebe mit ihr war er immer bereit. Er brauchte keinerlei Hilfsmittel, wie jene, über die seine Freunde scherzhaft sprachen. Natürlich nur, wenn die Männer unter sich waren. Sie wunderten sich, warum er nicht mit ihnen in die Freudenhäuser und Swingerclubs ging. Einige vermuteten, dass er eine Geliebte habe, sie aber vor ihnen verstecke. Dies gelang ihm schon das dritte Jahr. So eine Beziehung konnte nur mit einer Frau wie Tanja funktionieren. Sie stellte keine Forderungen, wartete immer, bis er sie anrief. Sie trafen sich nur, wenn er sicher sein konnte, dass es keine Gefahr gab, entdeckt zu werden.

Sie lagen auf dem Operationstisch. Das weiße Handtuch lag am Boden, die letzten Wassertropfen glänzten wie Perlen auf Tanjas Körper. Er drang in ihre weichen und warmen Partien vor, während er ihre Brüste leidenschaftlich küsste. Ihre Augen waren geschlossen, sie stöhnte, während sie ihm liebevoll über den Kopf strich. In diesen Momenten vergaß Doktor Jurij Čajka seinen Beruf und sein Ansehen, seine Familie und den Reichtum, den er sich erarbeitet hatte. In diesen Momenten war er wieder der glückliche und neugierige Junge aus der Vorstadt von Kiew.

Tanja zog sich rasch an und wartete vor der Tür der Arztpraxis auf Jurij, der noch einmal alle Räume kontrollierte. Die Frau, die jeden Abend die Praxis reinigte, kam erst später und störte ihre Treffen nicht. Jurij sah sie selten, nur wenn sie eine Bestätigung benötigte, und einmal jährlich, auf der Weihnachtsfeier für seine Angestellten.  Sorgfältig entfernte er alle Spuren ihres Treffens, schloss die Tür ab, küsste Tanja noch einmal sanft, danach verließen sie getrennt das Haus. Es regnete noch immer.

 

Etwa eine halbe Stunde später betrat Tanja das Gebäude in dem sie lebte. Sie ging an billigen Zimmern und Wohnungen vorbei, wo es nach Gekochtem und frisch gewaschener Wäsche roch. Wegen des Regens wurde die Wäsche heute in den Gängen getrocknet. Hier wohnten jene, die sich in der neuen Umgebung noch nicht zurechtgefunden hatten oder jene, die vom Lebenskampf ermüdet aufgegeben hatten. Hauptsächlich Alleinstehende, da und dort auch ein Flüchtlingspaar mit Kindern. Da waren Prostituierte, Bauarbeiter, die nur manchmal vorbei kamen und die Zimmer in der übrigen Zeit weiter vermieteten, Pensionisten, die hier ihre letzte Bleibe gefunden hatten und Personen mit leichteren psychischen Erkrankungen. Eine breite Palette jener Schicht, von der man zwar wusste, dass es sie gab, die aber bei politischen Kampagnen nicht im Vordergrund stand. Diese Menschen waren auch als mögliche Konsumenten wenig interessant. Sie lebten am Existenzminimum und oft auch darunter. Besorgt beobachteten sie die Veränderungen rund um sich. Aber trotz dieser Vielfalt an Charakteren und Schicksalen herrschte im Gebäude Ordnung und es gab kaum Konflikte oder Kriminalität. An warmen und sonnigen Tagen saß der Großteil der Hausbewohner auf den hölzernen Bänken vor dem Haus. Die Kinder liefen fröhlich rund um das Gebäude und dachten sich Spiele aus, bis zum Abend, bis die Mütter sie laut zum Abendessen heim riefen. Die Pensionisten unterhielten sich schon ab dem frühen Morgen und diskutierten intensiv über aktuelle Themen. Gewöhnlich saßen sie bis zum Abend am gleichen Platz, unterbrochen nur durch die Pausen für das Mittagessen und den Nachmittagsschlaf. Nichts konnte ihnen entgehen.

Tanja teilte sich ein Zimmer mit einer Frau aus ihrer Heimat. Wegen ihrer dunklen Haut und ihren markanten Gesichtszügen wurde diese von allen Mama Juanita genannt und so begann auch Tanja sie Mama zu nennen. Ihre richtige Mutter hatte sie schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, worüber sie sehr unglücklich war. Der bekannte Geruch des von Mama Juanita auf dem kleinen Ofen zubereiteten Essens erwartete sie schon vor der Tür. Im Topf köchelten Paprika, Tomaten, Zwiebel und Würstchen, gewürzt mit Knoblauch und Paprikapulver.

„Hallo Mama, wie gut das riecht! Deine Soljanka ist die beste der Welt!“

„Hallo Kleine ... Aber du bist ja völlig durchnässt! Komm schnell herein und wärm' dich auf! Du wirst dich noch erkälten!“

„Ach, mach dir keine Sorgen. Du weißt doch, dass ich nicht so empfindlich bin.“

Das Zimmer war klein und völlig überfüllt. Auf der rechten Seite des Raumes, der einem Vorzimmer ähnelte, stand ein Waschbecken, daneben ein Mini-Herd auf einem Holzregal. Gegenüber ein Einbauschrank. Auf der gleichen Seite Mama Juanitas Bett mit dem dicken rosa Überwurf und eine kleine Stellage mit einem Fernseher. Tanja setzte sich auf das Zustellbett auf der anderen Seite des Zimmers, das sie durch Vorhänge aus dem gleichen rosa Stoff wie auf Mama Juanitas Bett in zwei Teile geteilt hatten. Auf dem Klapptisch warteten schon Sauerrahm, Essiggurken und ein paar Scheiben Schwarzbrot. Tanja zog sich rasch um und biss in eine Essiggurke, während sie sich ein Stückchen Brot abbrach.

„Warte noch ein bisschen, die Soljanka ist gleich fertig“, rief ihr Mama Juanita zu und schob sich mit dem Holzlöffel in Richtung Topf. „Wo warst du denn heute so lange?“

„Ich habe bei dieser Frau, die das Auto-Service hat, gearbeitet. Heute konnte ich wegen des Regens nicht wie geplant den Rasen mähen, also habe ich ihre Wohnung geputzt. Danach habe ich mich mit Jurij getroffen“.

Mama stellte die Teller auf den Tisch und legte die Löffel dazu. Es sah so aus, als würde sie sich darauf vorbereiten, Tanja etwas zu sagen. Davor strich sie ihr aber liebevoll über den Kopf.

„Du weißt, Kleine, dass ich eine Tochter habe. Gott ist mein Zeuge, dass ich sie mehr liebe als alles andere auf dieser Welt. Aber du bist für mich wie eine zweite Tochter. So sehr ich ihr alles Gute im Leben wünsche, genau so sehr wünsche ich es dir“.

Tanja konnte schon ahnen, was jetzt kommen würde.

„Ich weiß, dass du Jurij liebst. Ja, er hat dir geholfen, dich hierher gebracht, dir die Unterkunft besorgt“, fuhr Mama Juanita fort, während sie ihre dunklen Augen nicht von Tanjas abwandte. „Aber vielleicht wäre es an der Zeit, über dein eigenes Leben nachzudenken! Du bist dir ja im Klaren darüber, dass er seine Familie nie verlassen wird!“

„Das verlange ich auch nicht von ihm“, gab Tanja verärgert zurück.

Mama Juanita seufzte tief. „Du solltest dich bemühen, jemanden in der Arbeit kennen zu lernen. Schau, eine meiner Bekannten hat vor ein paar Jahren ihre Tochter hier hergebracht und eine Putzarbeit für sie in einer Firma gefunden. Jetzt ist sie glücklich mit einem Ingenieur verheiratet und vor Kurzem haben sie ihr zweites Kind bekommen.“

Tanja verdrehte die Augen. Mama Juanita fuhr trotzdem fort: „Noch bist du jung und schön, Tanja. Das Leben wird dir nicht viele Chancen bieten. Nutze die, die du hast.“

Tanja hasste derartige Gespräche. Mit jemand anderen zusammen zu sein als mit Jurij war für sie undenkbar. Ja, in den Firmen, in denen sie putzte oder wo sie aushalf, waren andere Männer. Dort arbeiteten hauptsächlich Ingenieure mittleren Alters und Techniker, aber Tanja betrachtete sie nicht als Männer, und wenn, dann hätten sie ihr sicher nicht gefallen. Und umgekehrt war sie vermutlich auch nicht attraktiv für sie. Sie war nur eine der Putzfrauen, die kamen und gingen. Sie wandten sich nur an sie, wenn sie etwas störte oder wenn sie vergeblich ihre Kaffeetasse suchten.

„Können wir jetzt essen?“, fragte Tanja. Sie sah Mama Juanita an mit dem Blick einer jungen Frau, die noch nicht wusste, was sie will, aber ganz sicher wusste, was sie nicht wollte. Mama Juanita sah sie versöhnlich an und seufzte noch einmal tief, während sie den Topf auf den Tisch stellte.

Nachdem Tanja am nächsten Tag zur Arbeit gegangen war räumte Mama Juanita das Zimmer auf und wartete auf einen Besucher. Er war einer der wenigen Kunden, die ihr in all den Jahren treu geblieben waren. Hier wussten alle, dass sie eine Prostituierte war, aber niemand machte ihr Probleme. Vor siebzehn Jahren hatte sie begonnen, das älteste Gewerbe der Welt auszuüben, in der Hoffnung, dass sie so ihrem einzigen Kind helfen könnte. Was hätte eine Roma-Frau ohne Schule, die niemand anstellen wollte, auch anderes machen können. Ihr Mann hatte sie vor der Geburt ihrer Tochter verlassen und ihre Familie hatte nicht einmal genug für die eigenen Bedürfnisse. Von irgendetwas musste sie ja leben. Wichtig war, dass es ihrem Liebling an nichts fehlte. Schon von Kindesbeinen an war ihre Tochter ihre Prinzessin. Sie schickte ihr die schönsten Kleider, die besten Spielsachen. Obwohl sie getrennt von ihr aufwuchs, verfolgte Mama Juanita jeden ihrer Schritte, immer mit der Angst im Hinterkopf, dass sie womöglich den gleichen Fehler machen könnte wie sie. Aber alles lief, wie sie es sich für ihr Kind erträumt hatte. Dieses Jahr würde ihre Tochter an der  Medizinuni inskribieren. Was kann sich eine Mutter Schöneres wünschen? 

 

Tanja arbeitete morgens als Putzfrau im Einkaufszentrum in der Stadtmitte. Sie kam als eine der ersten an und schon nach zwei Stunden war sie fertig mit der Abteilung für Männerbekleidung und der Spielwarenabteilung. In der verbliebenen Zeit half sie ihrer Kollegin Dragana, die die Gänge im selben Stockwerk wischte. Manchmal machten sie eine kurze Pause und schauten sich die ausgestellten Waren an. Eine halbe Stunde vor Öffnung des Einkaufszentrums kamen die ersten Verkäuferinnen mit toupiertem, gefärbtem Haar. Es sah so aus, als hielten sie sich für enorm wichtige Glieder in diesem unendlichen Prozess des Geldausgebens. Schon bevor das Warenhaus öffnete, warteten Gruppen ungeduldiger Käufer vor den Eingängen.

Dragana kam heute zu spät und so beeilte sich Tanja mit dem Staubsaugen, für den Fall, dass sie auch ihre Arbeit übernehmen müsste. Es fiel ihr nicht schwer. Sie entspannte sich sogar beim Geräusch des Staubsaugers und dachte dabei über schönere Dinge nach. Gerade als sie in Gedanken bei ihrem gestrigen Treffen mit Jurij war, stürmte Dragana völlig außer Atem herein und warf gleichzeitig hastig den Arbeitsmantel über.

„Entschuldige Tanjuschka, ich musste noch vor der Arbeit auf die Bank. Ich habe dir doch erzählt, dass mein Bruder und die Schwägerin einen Sohn bekommen haben. Jetzt ist die Taufe und das kostet bei uns sehr viel, das weißt du ja. Das ganze Dorf wird zum Fest eingeladen. Ich musste ihnen Geld schicken.“

„Kein Problem Dragana, wir werden das schon irgendwie schaffen. Ich bin mit meiner Arbeit fast fertig“, sagte Tanja und staubsaugte weiter.

Dragana stammte aus Serbien. Ihre Familie wohnte irgendwo an der Grenze zu Rumänien, wie die Mehrheit der Beschäftigten in der Firma. Seit ein paar Jahren lebte Dragana mit ihren Großeltern in Wien in einer kleinen, baufälligen Wohnung ohne Bad. Sie war sicher fünf bis sechs Jahre jünger als Tanja, sodass Tanja sich fragte, wie es denn möglich sei, dass sie so viel Arbeitserfahrung hatte. Tanja liebte Draganas Optimismus und ihren einfachen Blick auf die Dinge. Für Dragana war es ganz normal, mehr als sechzig Stunden wöchentlich zu arbeiten und den Großteil des verdienten Geldes ihrer Familie nach Serbien zu schicken. Sie beschwerte sich nie und es sah so aus, als würde sie diese Arbeit sogar mit Zufriedenheit erfüllen.

An der Tür erschien die erste Verkäuferin. Dragana lächelte sie an und grüßte sie höflich. Tanja fuhr währenddessen einfach mit ihrer Arbeit fort.

Als sie fertig waren, tranken sie mit den anderen Frauen der Putzkolonne Kaffee aus dem Automaten. In dem kleinen Raum, den das Einkaufszentrum ihnen zugewiesen hatte, standen Putzwägen, Staubsauger, Desinfektionsmittel und verschiedenfarbige Säcke, in denen getrennt Plastik, Papier, Glas und Restmüll entsorgt wurden. Um diese Zeit kamen auch die Vorarbeiter, die die Arbeiter zu anderen Arbeitsplätzen fuhren, wenn dort noch Arbeitskräfte benötigt wurden. Heute waren keine Überstunden notwendig, also gingen Tanja und Dragana in der nahe gelegenen Pizzeria auf ein Getränk.

„Tanja, ich muss dir etwas sagen, aber du darfst nicht lachen“, sagte Dragana ein wenig schüchtern. „Vor ein paar Tagen habe ich einen jungen Mann kennengelernt. Der ist so richtig süß. Ich glaube, ich gefalle ihm.“

„Aber das ist ja super, Gaga! Wo hast du ihn kennengelernt?“

„Er ist aus meinem Ort, aber seine Eltern sind schon vor langer Zeit nach Deutschland ausgewandert, also kennen wir uns nicht von früher. Wir haben uns letzte Woche auf der Hochzeit meiner Verwandten kennengelernt und seither schickt er mir jeden Tag SMS. Ich bin ganz verloren, Tanjuschka. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken.“

„Aber das ist wunderbar, ich freue mich so für dich.“

„Ich werde dich ihm vorstellen, wenn er mich besuchen kommt. Du wirst sehen, er wird dir sicher gefallen. Dauernd scherzt er mit mir und er ist immer so fröhlich“, seufzte Dragana und beschrieb begeistert ihren Prinzen.

Tanja freute sich ehrlich für sie. Aber sie konnte mit ihr nicht über Jurij reden. Es wäre ihr schwer gefallen, zu erklären, dass er schon verheiratet ist, und auch ihm wäre es nicht recht gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sie anderen von ihrer Beziehung erzählte. 

„Tanjuschka, hörst du mir zu? Entschuldige, ich spreche nur über mich und frage dich gar nicht, was es bei dir Neues gibt.“

„Bei mir tut sich absolut nichts. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.“

„Ach geh, ich bin mir sicher, dass du bald jemanden finden wirst. Du bist so schön Tanja und so schlank. Wenn ich nur dein Aussehen hätte und nicht so klein und plump wäre. 

„Ach Dragana, du hast ja keine Ahnung…“, sagte Tanja.

„Glaube mir, du findest einen, bald und das wird bestimmt jemand ganz Besonderer sein.“

„Mal sehen…“, sagte Tanja nachdenklich. „Mal sehen.“