„Hey, schläfst du noch, oder schläfst du wieder?“

Das Zimmer ist verdunkelt. Er streckt sich. Sein ganzer Körper tut weh, und er hat keine Lust aufzustehen.

„Ich gehe Zeitungen kaufen. Brauchst du auch etwas?“

„Ja, etwas zum Essen. Kannst du mir ein Gyros mitnehmen?“

„Ok, dann hole ich auch einen Salat für mich. Ich nehme nur noch das Geld.“

Kurz überlegt sie, ihm von der Begegnung am Strand zu erzählen, aber sie ist nicht sicher, ob er in diesem Zustand zuhören wird. Sie will es lieber später versuchen. Während sie einkaufen geht, schleppt er sich ins Bad. Seine Glieder sind schwer, aber die Kopfschmerzen sind erträglicher. Nach dem Duschen fühlt er sich ein wenig besser. Er ist böse auf sich selbst, weil er die Urlaubstage im Bett verbringen muss. Vielleicht hätte er die letzten Tage nicht so lange in der Sonne bleiben sollen. Er hat entschieden, dass es besser ist, wenn er heute den ganzen Abend im Apartment bleibt.

Sie kommt schnell vom Einkauf zurück und ist sofort vertieft in die Zeitungen, sodass sie gar nicht merkt, dass er mit dem Bad fertig ist. Er betrachtet sie aufmerksam. Diesen ernsten und gespannten Gesichtsausdruck kennt er nur zu gut. Als wollte sie schon beim Lesen alle Probleme der Welt lösen. Er isst sein Kebab, und kurz drauf hört sie auch mit dem Lesen auf und leistet ihm Gesellschaft.

 „Ich habe am Strand von einem Jungen gehört, dass man mit dem Bus den Vulkankrater besuchen kann. Er sagt, den Vulkan muss man gesehen haben. Was denkst du, sollen wir?“

„Ja, es wäre sicher interessant. Wer weiß, ob wir irgendwann wieder die Gelegenheit haben werden.“

„Wir brauchen für den Ausflug nicht den ganzen Tag. Wenn wir morgen in der Früh hinaufgehen, könnten wir den Nachmittag noch am Strand verbringen.“

„Ja. Schauen wir zuerst, wie es mir morgen geht“, sagt er und legt sich wieder ins Bett.

Erst jetzt wird ihr klar, dass er den ganzen Tag im Zimmer verbracht hat und dass sie ihn nicht einmal gefragt hat, wie es ihm geht.“ Sie legt sich neben ihn, und er legt seinen Kopf auf ihren Bauch und genießt ihre Nähe. Sie streichelt ihm zärtlich über Haare und Hals, während er einschläft. Dann schaltet sie das Licht aus, und kurz danach schläft sie auch.

In der Früh fühlt er sich wie neugeboren. Sie packen ein paar Kleinigkeiten für unterwegs ein und machen sich auf die Suche nach dem Bus, der sie zum Vulkan bringen soll. Von den nahliegenden Inseln haben sich schon andere Reisende mit dem gleichen Ziel versammelt, und bald steigen alle zusammen in einen der Busse. Die Touristen sind mit Kameras bewaffnet, und bereits beim Wegfahren filmen sie den Gebirgsweg, der zum Vulkan führt. Sie ist neugierig und ein wenig aufgeregt. Nie hätte sie sich erträumt, dass sie einmal am Krater eines aktiven Vulkans stehen wird. Er freut sich, endlich wieder aus dem Zimmer gekommen zu sein. Die kurvige Gebirgsstraße und Nadelbäume erinnern ihn an seinen Geburtsort. Er versucht ein paar Fotos durch das geschlossene Fenster zu machen, aber außer viel Grün und Spiegelung am Fenster kann man auf seinen Aufnahmen kaum etwas erkennen. Dann macht er ein Foto von ihr, das ebenfalls unscharf ausfällt. Er zeigt es ihr, worauf sie mit genervtem Gesichtsausdruck die Augen verdreht. So entscheidet er sich mit dem Fotografieren lieber bis zur Ankunft zu warten. Der Busfahrer lässt sie mit den anderen Fahrenden in der Nähe des Kraters aussteigen und informiert sie, um welche Uhrzeit sie wieder abgeholt werden. Ein paar Schritte müssen sie noch zu Fuß gehen, dann sehen sie eine große und glatte, gelb-graue Fläche vor ihnen liegen. Mehrere Touristen bewegen sich darauf wie kleine Ameisen. Die Hitze vom Boden ist stärker als die vom Himmel, und den Schwefel, der aus mehreren Löchern des Kraters dampft, können sie schon riechen. Das Ganze sieht aus wie auf einem fremden Planeten. Sie bleiben noch eine Weile am Rand stehen, auf das imposante Panorama blickend, bevor sie den engen Weg hinunter gehen. Im Krater selber ist es noch wärmer. Sie müssen aufpassen, dass sie nicht zu nah an die kleinen gelben Löcher mit den austretenden Gasen herankommen. Es sieht so aus, als würde die Erde atmen. Sie denkt daran, wie klein und hilflos sie dieser Kraft gegenüberstehen. Nur eine kleine Bewegung dieses Giganten und sie wären in Staub verwandelt, würden verschwinden, als wären sie nie da gewesen. Stärker als sonst ist ihr die Vergänglichkeit des Lebens bewusst. Sie ist irgendwie wacher, fängt an, wie die Erde unter ihr zu pulsieren. Er fotografiert pausenlos und mit der gleichen Begeisterung wie sie entdeckt er die Schönheit des Vulkans. In einem Moment kommt er zu nah an eine der Öffnungen und verbrennt sich fast die Hand. Sie erinnert ihn unnötig, dass er etwas Unüberlegtes gemacht hat, worauf er ihr ein schwaches Lächeln schenkt. Sie haben noch Zeit bis zur Rückkehr, aber die Hitze am Krater wird langsam unerträglich. So steigen sie wieder auf die Plattform, kaufen eine Flasche Wasser und umarmt genießen sie diesen einmaligen Anblick. Bevor sie zum Bus gehen, drehen sie sich noch einmal um, mit dem Gefühl, dass dieses Bild sie noch länger begleiten wird. Während sie in großer Eile zum Bus geht, macht er noch ein paar letzte Aufnahmen und läuft ihr dann nach.

Im Zimmer angekommen haben sie keine Lust mehr, zum Strand zu gehen. Sie entscheiden sich lieber im gekühlten Zimmer zu bleiben und die Fotos des Ausflugs anzuschauen. Die Bilder sehen toll und fast irreal aus. Dieses Mal werden sie genug Fotos haben, die lohnen entwickelt zu werden. Sie liegen gemütlich nebeneinander, aber dann erinnert sie sich, dass sie die Zeitungen von gestern noch nicht gelesen hat. Beim Lesen spürt sie wieder die vertraute Unruhe, da die Nachrichten aus Europa nicht günstig für Griechenland sind.

„Verdammt, sie drohen den Griechen schon wieder. Mit Sicherheit ist alles schon vorgeplant, um die Privatisierung voranzutreiben“, sagt sie.

Er kennt das schon. Bei Ena ist alles eine große Verschwörung, die Zeitungen schreiben nur Unwahrheiten und alle Politiker sind korrupt. Nur sie allein hat Recht. Er sagt nichts. Heute will er nicht darüber diskutieren. Aber sie fängt wieder an:

„Weißt du, ich habe gestern am Strand einen jungen Mann kennengelernt. Der, der mir vom Vulkan erzählt hat. Er ist Mitglied von SYRIZA. Ich war begeistert, dass sich in Griechenland junge Menschen mit Politik beschäftigen. Nicht wie bei uns, wo sie nur Blödsinn im Kopf haben.“

Er hat schon von SYRIZA gehört, ist aber nicht sicher, wofür sie eintreten. In letzter Zeit konnte man in den Nachrichten ihren jungen, charismatischen Parteivorsitzenden sehen. Die anderen Politiker schienen Angst vor seinen Entscheidungen zu haben. Womöglich ist er gegen die Politik der Europäischen Union. Trotzdem, er mag ihre Schwarz-Weiß Kommentare nicht. Er mag nicht, wenn sie gesellschaftliche Fehlentwicklungen überspitzt darstellt und weiß, dass sie jetzt eine Bestätigung von ihm haben will. Stattdessen sagt er nur: „Wahrscheinlich muss er sich damit beschäftigen. Wir haben Glück, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir das nicht müssen.“

Er ist sich nicht bewusst, welche Lawine er mit diesem Satz auslösen wird. Hätte er das gewusst, hätte er wie so oft nichts gesagt. Sie schaut ihn sichtbar aufgeregt an.

„Und wieso müssen wir das nicht? Ist dir wirklich egal, wer dein Leben steuert?“ 

Er erkennt die versteckte Wut in ihren Augen. Es ist bereits zu spät, um Realitätssinn von ihr zu erwarten, aber ihm reicht es auch. Er will einfach nur einen schönen Urlaub verbringen. Das Letzte was er sich wünscht, ist diese sinnlose politische Diskussion.

„Nein, ist mir nicht egal. Was hat dir dein neuer Bekannter erzählt?“, fragt er mehr um die Lage zu beruhigen.

„Als ob dich das interessiert! Du hast wie der Großteil deiner Landsleute kein Interesse an Politik, aber du wunderst dich, warum dein Leben in die falsche Richtung läuft, obwohl du alles richtig gemacht hast.“

„Ich habe mit meinem Leben kein Problem“, sagt er leicht genervt von ihrem Ton.

„Aha, hast du nicht?! Du fragst dich nur, wie es möglich ist, dass du nach zwanzig Jahren fleißigem Lernen und Arbeiten und noch immer am Anfang stehst. Nur deine Nerven sind am Ende.“

Im gleichen Moment weiß sie, dass sie eine Grenze überschritten hat, aber sie kann nicht mehr zurück. Eine kurze, schwierige Pause entsteht. Sie will sich entschuldigen. Will ihm sagen, dass sie alle nur Opfer eines unmenschlichen Systems sind, aber ist nicht sicher, ob die Entschuldigung noch einen Sinn hat. Gleichzeitig ist sie genervt von seiner Passivität, die er mit seinem letzten Kommentar nur noch bestätigt.

„Ich glaube, jetzt ist weder Ort noch Zeit für solche Diskussionen. Vor allem nicht über Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben.“

Er will, dass dieses Gespräch so schnell wie möglich endet. Bei ihr endet jeder Streit unnötig mit persönlichen Beleidigungen. Er dreht sich um und geht raus auf die Terrasse. Er will nicht, dass sie sieht, wie beleidigt er wirklich ist. Sie versucht, ihre Wuttränen zu verstecken und verschluckt sich dabei. In diesem Moment könnte sie weggehen und etwas Unüberlegtes machen. Sie könnte alles vom Tisch fegen, die Keramikvase von der Kommode zerschlagen, könnte schreien und weinen. Stattdessen bleibt sie nur steif liegen, mit einem gefühllosen Blick auf einen Riss in der weißen Wand. Sie fängt an, in diesen ihr so bekannten Zustand zu fallen. Als sei sie aus den Schienen gesprungen und alles, was ihr bis dann wichtig war, verliert an Bedeutung. In diesem Zustand kann sie lange verharren. Bis sie sich in Mitleid verliert, und empfindet das Leben so, als gebe es keinen Weg nach vorne und keinen Weg zurück. Manchmal bleibt sie tagelang im Bett ohne den Wunsch aufzustehen. Sie könnte jetzt auch sterben, es wäre ihr egal.